Wie wollen wir leben?

Wer mich kennt, weiß, dass ich auf Materielles nicht allzu viel Wert lege. Ich mag es zwar, mich mit schönen Dingen zu umgeben, aber mir ist Besitz nicht wichtig, ich brauche nicht viel, um mich wohl zu fühlen, komme täglich mit sehr wenig zurecht (Rechner, Internet, Körperpflege, Essen). Und trotzdem gibt es diese unüberschaubare Fülle an Dingen um mich herum, die mir gehören, die ich irgendwann im Glauben, sie zu brauchen, erworben habe. Mal ganz abgesehen von den Sachen, die tagtäglich meinen Körper durchlaufen, weil ich nunmal gerne leckere Sachen esse und trinke. Oder den immateriellen Dingen, die ich verbrauche, wie Strom, Wärme, Bandbreite usw. Das kommt ja alles noch on top.

Summa summarum kommt so eine beträchtliche Anzahl an Kram – und Verbrauch – in einem Leben zusammen. Nur dass man es selten als „Verbrauch“ – von Resourcen, und damit von Erde, nämlich – versteht, obwohl einen die Klassifikation als „Verbraucher“ doch eigentlich immer wieder daran erinnern könnte, dass es genau das ist, was man da tut: Welt verbrauchen. Welt, Umwelt, Natur, Resourcen. Kein Wunder also, dass „Verbraucher“ als Vokabel im Marketing nicht (oder nur selten) vorkommt! Hier sind wir: Kunden, Nutzer, User, Du, Sie, Wir, maximal noch: Konsumenten. Wobei auch der Begriff „Konsument“ natürlich so ausgelegt wird, dass wir die Dinge ja nur (vorübergehend) nutzen. Nicht aber, dass diese Nutzung auch einen unwiederbringlichen Verbrauch von Erde, von Welt, zur Folge hat.

Harald Welzer nennt diese Art des Weltverbrauchs „Extraktivismus“. In seinem Buch „Selber denken“ zeigt er auf, wie wir – ohne es zu beabsichtigen und uns darüber im Klaren zu sein – permanent eine Art impliziten Raubbau an der Natur betreiben, indem wir Dinge kaufen, die der Natur für immer ihre Resourcen entziehen. Seien es seltene Erden in Handys und Elektroautos, seien es der immense Wasserverbrauch in der Industrieproduktion (Teslas Gigafactory in Grünheide etwa verbraucht 1,4 Millionen Kubikmeter Wasser im Jahr; das Stahlwerk von AcelorMittal in Eisenhüttenstadt rund 8 Millionen Kubikmeter; die Ölraffinerie PCK in Schwedt etwa 20 Millionen Kubikmeter; der Braunkohle-Konzern LEAG in der Lausitz rund 100 Millionen), seien es die Ölvorräte, die für Überraschungseier-Gimmicks und anderen Plastikramsch aus China draufgehen, seien es sämtliche nicht-erneuerbaren Energien, die wir in Form von Strom, Wärme, Mobilität oder „Produkten des täglichen Bedarfs“ (im Englischen: „Fast Moving Consumer Goods“; als ob sich die „Güter“ nur hin- und herbewegten, anstatt dabei weniger zu werden und in die Atmosphäre zu verpuffen – was die Frage aufwirft, was an einem „Gut“ eigentlich gut ist) direkt oder indirekt verbrauchen.

Welzer schreibt: „Ihr Auto, Ihr Haus, Ihre Waschmaschine, Ihr iPhone, Ihre Kleidung, Ihre Möbel – alles besteht aus Material, das auf irgendeine Weise aus dem Boden, aus den Wäldern, aus dem Meer geholt wurde – sei es in Form von Öl, Seltenen Erden, Sand, Metall, Wasser, Holz, Baumwolle, Mineralien, was auch immer. Sie aber sehen immer nur das Ding, das Sie gekauft haben und das Ihr Leben bereichert; die Rohstoffe und die sogenannte Wertschöpfungskette, die in ihm stecken, sehen Sie in aller Regel nicht.“

Wir sehen auch nicht: die lokalen Umweltschäden, die unser Verbrauch in den Herkunftsländern verursacht (z.B. Minen, Tagebau, Abholzung von Regenwäldern) und die sozialen Katastrophen (z.B. Ausbeutung von Arbeitern in Sweat Shops, Kinderarbeit, Kriege), die mit der Gewinnung dieser Ressourcen und ihrer Weiterverarbeitung zu Produkten oft einhergeht. Und wir sehen auch nicht: Wie viel Kohlendioxid, Methan, Lachgas, F-Gase und Aerosole bei der Gewinnung, der Produktion und dem Transport unserer Ge- und Verbrauchsgüter in die Luft gepustet werden. Hauptsache, es schmeckt, sieht gut aus, macht Spaß, fühlt sich gut an, ist schön verpackt und wird witzig beworben… Weltverbrauch als Wohlfühlangebot. Das macht Verzicht natürlich unmöglich!

Wenn man diesen Gedanken einmal verstanden hat – und damit meine ich: ihn wirklich an sich herangelassen und in seiner gesamten Konsequenz verinnerlicht hat, statt ihn als „gehört und verstanden“ abgewehrt und erfolgreich aus dem Ich, Es und Über-Ich verdrängt zu haben –, wird vieles fraglich. So zum Beispiel: Warum es diese Vielfalt unterschiedlicher und doch gleicher Produkte überhaupt gibt. Warum jeder von uns so viel konsumieren darf, wie er (aufgrund seiner – Achtung: „KaufKRAFT“) konsumieren kann. Warum Konsum nicht rationiert ist. Warum die indirekten Kosten von Produkten (Umweltzerstörung, Umweltverschmutzung, soziale Kosten und Folgekosten, Krankheiten, Klimaschäden, Zerstörung der Biodiversität etc.) sich meist nicht in deren Preis niederschlagen. Warum wir, obwohl wir das alles seit Jahren und Jahrzehnten wissen, immer noch weit davon entfernt sind, dieses Wissen in tagtägliches Handeln zu übersetzen. Warum wir noch immer an den alten Erzählungen und Bildern von Wachstum und Wohlstand festhalten, obwohl es dringend neue Narrative bräuchte, die eine Transformation der Gesellschaft in eine ökologisch vertretbare Richtung beschleunigen. Warum wir uns jeden Tag aufs Neue etwas vormachen, notwendiges Handeln auf Morgen verlegen, uns nachhaltigkeitsrelevante Ziele erst in ferner Zukunft setzen, unser Gewissen mit Bio-, Fairtrade- und Öko-Labeln beschwichtigen – und dabei im Heute munter weiterkonsumieren wie bisher.

Der Mensch ist offenbar, wie er ist. Das heißt: Wir lernen langsam – und werden dabei gleichzeitig von der Beschleunigung überrollt, die uns aus allen Bereichen des Lebens entgegenströmt. Beschleunigung und Komplexität. Und damit verbunden: Das meist Zu-spät-Bemerken von Entwicklungen, die falsch laufen. Und damit wiederum verbunden: Der notorische Versuch, diese falschen Entwicklungen zu verschlimmbessern – anstatt sie zu korrigieren, indem man sie beendet. Einfach aufhört damit. Es einfach anders und besser macht. Harald Welzer beklagt daher in seinem aktuellen Buch „Nachruf auf mich selbst“, „dass unsere Kultur kein Konzept vom Aufhören hat. Deshalb baut sie Autobahnen und Flughäfen für Zukünfte, in denen es keine Autos und Flughäfen mehr geben wird. Und sie versucht, unsere Zukunftsprobleme durch Optimierung zu lösen, obwohl ein optimiertes Falsches immer noch falsch ist. Damit verbaut sie viele Möglichkeiten, das Leben durch Weglassen und Aufhören besser zu machen.“

Um dorthin zu kommen, braucht es aber: alternative Lebensentwürfe, Vorreiter, die diese Lebensentwürfe testen, und eine globale Vision, die als verbindliches Leitmotiv für unser Haushalten mit den Kapazitäten und Ressourcen des Planeten herhalten kann: „Wie wollen wir leben? Und was lässt unser Planet überhaupt (noch) zu?“

In seinem großartigen Essay „Das terrestrische Manifest“ plädiert Bruno Latour „jenseits überkommener Unterscheidungen wie links und rechts, fortschrittlich und reaktionär“ für eine „radikal materialistische Politik, die nicht nur den Produktionsprozess einbezieht, sondern auch die ökologischen Bedingungen unserer Existenz“. Latour stellt fest, dass der Globus nicht groß genug für die Globalisierung ist, dass zur ehemals positiv besetzten „Plus-Globalisierung“ inzwischen eine „Minus-Globalisierung“ hinzugekommen sei, die Erde, das „Terrestrische“, plötzlich in Form des Klimawandels auf unsere Handlungen reagiert. Der Mensch wird als Takt- und Gestaltgeber, als allmächtiger „Terraformer“, abgelöst und in seine Schranken verwiesen. Er stellt fest, dass er nicht länger im Zentrum steht und auch nicht länger der einzige Handelnde ist; dass die Erde selbst ein politischer Akteur ist und dass alle Fragen der Zukunft – auch die sozialen Fragen der Umverteilung und Gerechtigkeit – daher geo-politische Fragen sind.

„Jeder sollte die Erde einmal von oben sehen“, bestätigt der Astronaut Alexander Gerst dieses Verständnis der Erde als fragilem Lebensraum, der sich aufgrund seiner Begrenztheit und Verletzlichkeit nicht dem Gestaltungswillen des Menschen unterwerfen lässt. „Wenn man den Planeten von außen sieht“, schreibt er, „merkt man, dass es nur ein begrenzter Ort ist. Die Erde ist nicht groß. Für den Rest des Universums ist sie ein unbedeutender Ort, für uns Menschen bedeutet sie alles. Man realisiert, dass wir keinen Plan B. haben, wenn wir mit der Erde schlecht umgehen. Die Biosphäre ist zerbrechlich. Wir könnten sie aus Versehen zerstören, das ist das Erschreckende. Das sieht man sofort, wenn man vom Weltraum herunterschaut.“

Dieser Blick aus dem Weltraum macht klar: Die Erde mag vielleicht ein dicker, robuster und resilienter Brocken sein. Die Biosphäre jedenfalls ist es nicht! Sie ist gerade mal ein paar hundert Meter dick. Alles, was jemals auf der Erde gelebt und geatmet hat, lebte und atmete auf diesem freundlichen Streifen Welt. Und wir sind gerade dabei, diese fragile Zone zu zerstören und für immer unbewohnbar zu machen. Auf Kosten aller anderen Lebewesen übrigens. Und auf Kosten aller künftigen.

Doch wie will man leben, wenn man eigentlich gar nichts mehr wollen dürfen kann? Wenn sich bei jedem Konsumakt das schlechte Gewissen und der Wunsch nach atmosfairischem Ausgleich meldet, um jedem verantwortungsbefreiten Hedonismus eins vor den Bug zu knallen? Wenn Lebendigsein zum ökologischen Problemfall wird, dem auf Schritt und Tritt sein ihn ermahnender CO2-Fußabdruck folgt? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: dass ich immer weniger Materielles will. Weniger konsumieren. Weniger Auto fahren. Weniger Fleisch essen. Weniger Neues kaufen, was man nicht braucht. Und dass ich mehr Immaterielles will: Mehr Zeit. Mehr Ruhe. Mehr Gemeinschaft mit Freunden. Mehr Natur. Mehr Kultur. Mehr Sinnhaftigkeit. Und mehr Sinnlichkeit.

Liegt sicher am Alter, wird der ein oder andere jetzt denken. Und das stimmt ja auch. Wenn man jung ist, will man noch viel. Mit den Jahren wird es offenbar weniger. Und irgendwann will man dann das, was man mal haben wollte, nur noch loswerden. Es ausmisten und reduzieren, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Raum zu schaffen für Klarheit, Fokus und Kontemplation. Nichts also fürs Berghain-Alter. Eher was für die Zeit nach der Midlife Crisis. 

Wie sollte man also leben? Vielleicht so bewusst und achtsam, wie mancher, der auf sein Gewicht Wert legt, isst. Nur, dass wir, statt auf Kalorien zu achten, eine gewisse Sensibilität für den ökologischen Fußabdruck unseres Handelns und Konsums entwickeln, und indem wir abwägen, was wir wirklich wollen und zum Wohlfühlen brauchen, und was weggelassen werden kann. Ein bewusster, reflektierter im Umgang mit der Welt und ihren Resourcen eben, zu dem sicher auch ein gewisser Verzicht dazugehört, der aber vielleicht in Kauf genommen werden kann, wenn man weiß, warum man auf etwas verzichtet. Auch ein Abschied von der Schnelllebigkeit der Plastik- und Wegwerfgesellschaft hin zu mehr Qualität, nachwachsenden Materialien und Wiederverwertung. Alles schon 1000mal gehört! Und alles auch schon wieder 1000mal verworfen, vergessen, verdrängt… weil die Gesellschaft erst am Anfang ihrer Transformation zu mehr Nachhaltigkeit steht und einem immer wieder den grenzenlosen Konsum schmackhaft zu machen versucht. Nur dass Grenzenlosigkeit in einer begrenzten Welt mit bald 10 Milliarden Menschen eben grenzenlose Dummheit bedeutet.

Ich bin eigentlich recht optimistisch, dass wir noch mal die Kurve kriegen. Dass die neuen Konzepte und Narrative sukzessive im Mainstream ankommen. Dass Konsum rein um des Konsums willen bald verdächtig wird. Dass Immaterielles eine Renaissance erlebt. Und Geld vom Selbstzweck wieder zum Mittel wird. Wir brauchen den ganzen Kram nicht! Was wir brauchen ist: Zeit, Ruhe, Gemeinschaft mit Freunden, Natur, Kultur und Sinn!

 

 

Quellen:

Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens

Bruno Latour: Das terrestrische Manifest

https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/wirtschaft/tesla/2021/09/tesla-wasser-arcelor-stahlwerk-gruenheide-eisenhuettenstadt.html 

https://www.fnp.de/hessen/jeder-sollte-erde-oben-sehen-10881499.html

 

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