Werden wir „Zukunftskünstler“!

Vor vier Jahren, als Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, und alle Welt entsetzt auf dieses Wahlergebnis gestarrt hat, habe ich in einem kurzen Essay den Versuch gewagt, die Gründe dafür zu analysieren. Im Kern ging es mir damals darum zu zeigen, dass ein Großteil der Amerikaner mit den Entwicklungen in ihrem Land nicht zufrieden ist, dass das Modernisierungsprogramm, das die USA unter Barack Obama durchlaufen haben, für eine Vielzahl der Menschen zu progressiv – zu „modern“ – war, wobei ich glaube, dass der „Staat“ hier auch für Entwicklungen abgestraft wurde, die ursächlich gar nicht vom Staat, sondern von der Wirtschaft und ihrer Agenda der Vierten Industriellen Revolution vorangetragen worden sind – oder schlicht und ergreifend von den Erfordernissen einer Anpassung an eine sich im globalen Maßstab verändernde Welt. 

Neben massiven Jobverlusten durch Digitalisierung, Automatisierung, Robotik und einer Hinwendung zu stärker umweltschonenden Technologien, forderten gleichzeitig auch Globalisierung, Deregulierung und Dekarbonisierung ihren Tribut. Industrien, die jahrzehntelang der Stolz des ganzes Landes waren, kamen innerhalb weniger Jahre unter die Räder. Qualifikationen und berufliche Werdegänge waren plötzlich nichts mehr wert. Das kapitalistische Höher, Schneller, Weiter, das vielen Menschen auch zu persönlichem Wohlstand verholfen hatte, hatte sich plötzlich in ein alle Grundlagen des nationalen Zusammenstehens sprengendes Anders, Neu, Digital, Global verwandelt, das – mit dem lakonischen Hinweis auf die „Entwicklungen“ in der Welt (so als wäre man dem hilflos ausgeliefert und hätte diese nicht politisch beeinflussen können) – Millionen wütende Amerikaner hervorgebracht hat, die aufgrund mangelnder Fähigkeiten und/oder mangelnden Willens zur Veränderung und Anpassung an das neue Paradigma auf der Strecke blieben.

Wen wundert es da, dass Trump mit seinem Versprechen, Amerika wieder groß zu machen, d.h. die nationalen Interessen wieder ins Zentrum der Politik zu rücken und die Fortschrittsuhr noch einmal zurückzudrehen, zurück zu Zeiten, in denen es Amerika, genauer: der (unteren) amerikanischen Mittelschicht, noch gut ging, bei der Mehrheit der Amerikaner punkten konnte? Was Trump aus diesem Auftrag während seiner vier Jahre andauernden Präsidentschaft dann gemacht hat, muss man nicht weiter kommentieren. Aber der Konflikt ist geblieben: dass sich die Entwicklung der Welt zunehmend von der Entwicklungs- und Anpassungsfähigkeit des Durchschnittsbürgers entfernt hat. Zumindest im Westen. Denn im Osten – in China, aber auch in Indien und Teilen der arabischen Welt – hat der „Fortschritt“ viele Profiteure erzeugt, in China gar eine neue Mittelschicht überhaupt erst erschaffen. Entsprechend wird der Fortschritt dort gefeiert und willkommen geheißen – auch wenn er mit zunehmender staatlicher Repression daherkommt, technisch ermöglicht durch ein Netz intelligenter, digitaler Überwachungssysteme. Wer die Freiheit nie kannte, vermisst sie auch nicht.

Heute ist der Tag, an dem Joe Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wird. Es ist ein guter und wichtiger Tag für die Welt, traurig allerdings angesichts der Umstände, unter denen er stattfindet. Selten gab es so viel Hass und Aggression gegen einen Vertreter einer Politik, die nach vorne schaut und auf globale Kooperation setzt, die ein Land nicht als störrischen Eigenbrötler sieht, sondern eingebettet in ein globales Netz an Rechten und Verpflichtungen. Für die Gegner dieser Politik bedeutet der Machtwechsel: erneute Angst, Unsicherheit und Bedrohung – Bedrohung, noch weiter abzurutschen in Bedeutungslosigkeit und Nutzlosigkeit. Denn wer dem „Markt“ nichts bieten kann, was dieser wertschätzt, wird zwangsläufig „überflüssig“ – ein Nutzloser, für den es keine Nachfrage mehr gibt. Und ich denke, es ist genau das die Angst, die Menschen ein „Kapitol“ stürmen lässt, neben all den anderen arrondierenden „Fehlentwicklungen“ aus ihrer Sicht wie etwa Homo-Ehe, Gleichberechtigung, Antirassismus, Antidiskriminierung, Inklusion, Diversity usw.: das verzweifelte Festhalten an einem Zustand der Welt, der einem selbst angenehm war, wenn auch auf Kosten aller anderen, die aber ohnehin nur minderwertig waren. Die Burg, die hier verteidigt wird, ist also die Burg der alten Welt: die Burg des wütenden weißen Mannes, der seinen „way of life“ gefährdet sieht und dem alles Angst macht, was anders ist als das, was ihm vertraut ist – und was ihm nützt. Anders gesagt: Was diese Menschen seit Jahren erleben, ist eine „Umwertung aller Werte“: das, was einmal Leitkultur war, hat ausgedient, während das, was einmal wertlos oder minderwertig war, aufgewertet wird. Man selbst verliert an Wert, während das Feindbild zum neuen Idealtypus wird. Ein hartes Los, das schon mal Wut auslösen kann…

… und das nicht nur in Amerika. Auch in Deutschland haben wir es ja mit ähnlichen Entwicklungen zu tun, insbesondere im Osten, wo mit der Wende eine ganze Generation bereits einschlägige Erfahrung mit Entwertung, Deklassierung und arbeitsmarktlicher Nutzlosigkeit machen musste. Hier ist der Frust nicht minder gering als in den USA, ja das Gefühl des Unterworfenseins und Ausgeliefertseins an die Willkür der Macht noch weitaus krasser als dort, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Entsprechend formiert sich auch hierzulande zunehmend der Widerstand. Gegen weiteren Fortschritt, gegen Migration, eine offene Gesellschaft, Umweltschutz, globale Interessen. Und seit Corona – auch gegen die Vertrauenswürdigkeit des Staates selbst sowie aller demokratischen Organe, die sich den Forderungen der Wutbürger, Querdenker, Klimawandelleugner und Maskengegner nicht unterwerfen wollen – und das, obwohl „das Volk“ doch wetternd vor ihnen steht und sie mit Reichsflaggen und Anne-Frank-Vergleichen so nett darum bittet.

Doch jetzt zu meinem eigentlichen Punkt: Was macht man als Markenstratege aus all dem? Für welche Welt, für welche Sicht, tritt man ein? Wie „politisch“ ist unser Job überhaupt? Und welche Verantwortung für die Zukunft tragen wir mit?

Ich tue mir mit meinem Job „in der Werbung“ seit Jahren zunehmend schwer. Angefangen hat es bereits schon sehr früh, in den Neunzigern, wo ich die Sinnhaftigkeit des kapitalistischen Konsumideals bereits radikal angezweifelt habe. Kapitalistischer Konsum kann nicht die Lösung sein, um die Welt vor dem Kollaps zu bewahren. Es braucht vielmehr die Bereitschaft zum Verzicht, zum Weniger ist mehr, zur Selbstbescheidung – und entsprechende gesellschaftliche Narrative und Paradigmen, die diesen Minimalismus global befördern. Vielleicht sind wir heute an diesem Punkt und erkennen, dass es nicht jedes Jahr die Fernreise, immer das neueste Automodell, die aktuelle Mode sein muss, um uns glücklich zu fühlen. Vielleicht haben Lockdowns und Ausgangssperren ja dazu geführt, dass wir unsere Zeit ganz anders nutzen wollen. Vielleicht merken wir auch, wie wichtig das Soziale ist – und dass Facebook & Co. reale Zusammenkünfte nicht ersetzen können.

Mit dem Aufkommen des Internets und der aggressiven Übernahme aller digitalen Räume durch Onlinemarketing und Datenaggregation, wurde mir noch mehr zuwider, was ich mit meinem Beruf vorantrieb – die respektlose Objektisierung von Menschen als Konsumenten nämlich, das Eindringen in ihre Privatsphäre durch unerwünschte Kommunikation, das Ausspionieren menschlicher Konsum- und Verhaltensweisen durch Datenanalysen, überhaupt das Schaffen einer digitalen Parallelwelt, deren Ziel es ist, Menschen so weit als möglich dort hineinzuziehen und festzuhalten, um den Preis ihrer sonstigen Entwicklungschancen und durch ihre vollständige Determination auf ihre Funktion als Datenlieferanten und dressierte Marketingäffchen, die kaufen, kaufen, kaufen. Ist das im Ernst unsere Vorstellung von der Welt, unsere Vision von der Zukunft, dass Menschen zu Hyperkonsumenten werden, die auch noch den letzten Kubikmeter sauberes Wasser und das letzte Gramm seltene Erde verkonsumieren? Haben Unternehmen wirklich nicht mehr auf dem Kasten, als Gewinne zu maximieren und ihre Stakeholder zu beglücken?

Ich denke, wir stehen heute, Anfang der 2020er Jahre an einem markanten Punkt in der Geschichte der Menschheit. Ob es ein Wendepunkt wird, ist offen. Es sollte nur inzwischen jedem klar sein, dass wir so nicht weitermachen können, wie wir es bisher getan haben. Die Corona-Krise hat uns gezwungen, vieles herunterzufahren – Reisen, Fahrten zur Arbeit, die Arbeit selbst, das Shopping. Deutschland hat dadurch erstmals seine Klimaziele erreicht. Dennoch warten alle sehnsüchtig auf die „Rückkehr“ zur Normalität. Und die Wirtschaft steht in den Startlöchern, um genau da wieder weiterzumachen, wo sie vor der Krise aufgehört hat. 

Das World Economic Forum (WEF) schwärmt zwar von einem „Great Reset“, der Utopie eines nachhaltigen, verantwortungsbewussten und gemeinwohlorientierten Kapitalismus also, ist sich aber gleichzeitig dessen bewusst, dass sich durch die Verwirklichung ihrer Vision die Automatisierung beschleunigt, die Macht der Technologie wächst und gleichzeitig eine verstärkte Überwachung aller öffentlichen und privaten Bereiche die wahrscheinliche Folge ist. Die Utopie der schönen neue Welt gibt es also nur – zum Preis der Dystopie der „Schönen neuen Welt“ und eines „Großen Bruders“ – Visionen also, vor denen uns Orwell und Huxley bereits vor sieben Jahrzehnten gewarnt haben. Und Visionen, an denen wir seit Jahren tatkräftig mitwirken, wann immer wir Performance Marketing, Data Analytics oder Corporate Social Media betreiben.

Entsprechend wollen Unternehmen, die die digitale Welt vorantreiben, auch gar nicht, dass sich nach Corona groß etwas ändert. Microsoft, LinkedIn und GitHub etwa haben die „10 gefragtesten Jobs“ sowie die dafür erforderlichen Kompetenzen in einem (bis Ende März 2021) kostenlosen Kursprogramm zusammengestellt (https://opportunity.linkedin.com/de-de/skills-for-in-demand-jobs). Zu diesen Jobs der Zukunft gehören Softwareentwickler, Vertriebsmitarbeiter, Projektmanager, IT-Administratoren, Kundenservice- und Helpdesk-Mitarbeiter, Spezialisten für digitales Marketing, Datenanalysten, Finanzanalysten und Grafikdesigner. Der ganze Schnee von gestern also! Weiterbildungen zum Gemeinwohlbilanzierer gibt es da jedenfalls keine, auch nicht zum Nachhaltigkeitsmanager oder Ethikbeauftragten. Schöne neue Welt? Nein, Schöne neue Welt!

In meiner Funktion als Strategieberater ist es mir in den letzten Jahren zunehmend gelungen, Unternehmen und Marken in Richtung Nachhaltigkeit und Gemeinwohl zu positionieren. Ein persönlicher Erfolg, auf den ich stolz bin! Digitalisierung hat in meinem Weltbild einen Platz, aber nur, soweit sie den Menschen nützt statt ihnen zu schaden. In der Markenkommunikation setze ich auf Pull-Instrumente. Ich will niemandem auf die Nerven gehen. Und ich nutze natürlich alles an Daten, um empathische Angebote zu stricken, tue mir aber schwer damit, wenn Daten perfide dazu missbraucht werden, um das Verhalten von Menschen zu steuern. Ich bin Humanist, kein Misanthrop – und ich habe den Anspruch meine Arbeit so zu gestalten, dass sie respektvoll und positiv und alles andere als zynisch ist.

In einer Welt, die auf Wachstum ausgerichtet ist, ist das angesichts des harten, oftmals globalen Wettbewerbs kaum mehr möglich. In einer durchdigitalisierten Gesellschaft IST es nicht mehr möglich. Was also tun? Wir brauchen den Fortschritt, die Hinwendung zu ökosozialem, gemeinwohlorientiertem Handeln. Einerseits. Andererseits: sehen wir, dass große Teile der Bevölkerung dazu nicht bereit sind. Dass es zu Aufständen und Revolutionen kommen wird, wenn wir das Tempo und den Grad der Veränderungen weiter beschleunigen. Unternehmen brauchen Innovation und Wachstum, um wettbewerbsfähig und am Leben zu bleiben. Einerseits. Anderseits: verträgt die Welt unseren steigenden Ressourcenverbrauch und Konsum nicht länger. Wir brauchen mehr vom Weniger. Wir brauchen vom Weniger mehr. Deshalb kann der Weg nach vorne nur gelingen, wenn der Boden entsprechend vorbereitet ist. Wenn Narrative die Oberhand gewinnen, die eine bessere, gerechtere, gesündere Zukunft propagieren. In der die vermeintlichen Verlierer sich als Gewinner sehen. Wo Selbstwert nicht mehr durch Arbeit und Erfolg entsteht. 

Ich begrüße daher ausdrücklich jede Form positiver, humanistisch gesinnter Narrative einer möglichen Welt von morgen. Wir brauchen diese Karotten! Nicht eine, sondern ganz viele davon! Menschen sind unterschiedlich – und genauso unterschiedlich sollten ihre Zukünfte und Lebensperspektiven sein! Harald Welzer hat das in seinem großartigen Buch „Alles könnte anders sein“ wunderbar skizziert! Es gibt nicht den EINEN richtigen Weg in die Zukunft, sondern viele, die sich gegenseitig beeinflussen können, als Testlabore für ein besseres Morgen. Das Nebeneinander muss zum neuen Paradigma werden! Das bedingt: Respekt vor der Meinung und dem Anderssein anderer, eine Kultur, die Ausprobieren fördert und Scheitern nicht diskreditiert, eine offene, neugierige Gesellschaft, in der Menschen Lust haben, ihr Umfeld gemeinsam zu gestalten, weniger Lean-back-Medien und mehr Inklusion – überhaupt: viel mehr Räume, in denen Menschen zusammenkommen, um sich gegenseitig zu inspirieren! Und ein Verständnis von Wirtschaft, das dem Menschen nützt.

Ich möchte an dieser Stelle noch einen Podcast empfehlen, der sich mit großer Hingabe diesen zarten, fragilen Themen widmet: „Sinneswandel“ von Marilena Berends (https://sinneswandel.art). Sie interviewt regelmäßig spannende Menschen, die sich mit solch positiven Zukünften beschäftigen. Sehr inspirierend und sehr unaufgeregt. Schließen wir uns dem an! Werden wir „Zukunftskünstler“!

 

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