I don’t believe in you (anymore)

Anyone who believes exponential growth can go on forever in a finite world is either a madman or an economist. Kenneth E. Boulding

In einem seiner Interviews aus dem November 2020 erklärt Yuval Noah Harari, dass die Corona-Krise der Anfang einer neuen Ära sein könnte – der Ära der totalen Überwachung der gesamten Menschheit. Vor die Wahl gestellt, ob man von einem Lockdown in den nächsten fällt oder sich zur Eindämmung des Virus vom Staat digital überwachen lässt, würden die Menschen (auch in liberalen Demokratien) früher oder später die zweite Option wählen. Und tatsächlich haben Mitte Januar 2021 bereits mehr als ein Viertel der Deutschen (24,9%) die Corona-Warn-App installiert, während 1,6 Millionen überwiegend alte Menschen (Stand 23. Januar) sich haben impfen lassen.

Während letzteres wichtig und ersteres gut ist, stellt sich doch bei ersterem auch die Frage: Wozu eigentlich? Denn wenn in einem Lockdown ja alle brav zuhause hocken, braucht es die App doch eigentlich nicht mehr. Oder wenn es die App täte, bräuchte es den Lockdown nicht mehr. Das war jetzt polemisch, zweifellos, und ich unterstelle unserer Regierung, auch den anderen europäischen Regierungen nicht, dass sie aktuell eine dauerhafte und nahtlose Gesundheitsüberwachung anstreben. Dennoch sollten wir als Bürger wachsam bleiben und wehrhaft, für den Fall der Fälle, wo es wieder mal anders kommt als man denkt. Denn die Versuchung ist groß, schreibt Harari, und: „Die Geschichte der Menschheit hat gezeigt, dass wir Menschen dazu neigen, alles zu tun, was wir tun können.“

Ich bin ein großer Fan von Big History, also genau der Disziplin, der sich Harari verschreibt. Man nimmt gewisse Unschärfen in Kauf, um die großen Handlungsstränge und Meta-Erzählungen zu sehen, lehnt sich also gewissermaßen zurück, um das übergeordnete Muster zu erkennen statt sich vornübergebeugt und mit verkniffenen Augen auf Micro-Events zu konzentrieren, die man dann kontextlos seziert. Man kennt das, wenn aus Tausenden von Bildern im Zoom allmählich ein großes Bild erscheint – das „Big Picture“ eben. Dabei es ist nicht nur Harari, der eindrücklich vor Zuständen wie in China – Stichwort: Totalüberwachung des öffentlichen und privaten Raums inklusive Social Credit System – warnt, auch andere Intellektuelle und Wissenschaftler, selbst Tech-CEOs, warnen vor möglichen Entwicklungen und davor, was passieren könnte, wenn gut gemeinte Technologien in falsche Hände geraten. Insbesondere vor den Auswirkungen einer falsch auf- und eingesetzten KI wird gewarnt, sei es von Stephen Hawking, Nick Bostrom oder Elon Musk. Solche Dual Use Szenarien lassen sich für nahezu alle heutigen Innovationspfade skizzieren und zeigen, dass Ambivalenz offenbar DIE zentrale Eigenschaft ist, die allen modernen Technologien inhärent ist und diese hochgradig gefährlich machen.

Grundsätzlich, denke ich, läuft die Welt jedoch in einer durchaus „annehmbaren“ Spur, d.h. wir sind uns unserer drängendsten Probleme bewusst (vgl. die 17 SDGs) und gehen diese global, entschlossen, auf breiter Front und auf sinnvolle Weise an: Klimaschutz, globale Zusammenarbeit, Gleichberechtigung, Artenschutz und vieles mehr. Es könnte schneller gehen, aber wie Hans Rosling ja gezeigt hat, hat sich in vielen Bereichen auch schon vieles erheblich verbessert – mit einem klaren Trend hin zu globaler Annäherung (vgl. das FAZ-Special zu „Factfulness“). Die Corona-Krise wird daran nichts ändern, auch wenn sie uns in vielen unserer Bemühungen schon jetzt um Jahre zurückwirft. So verzeichnen wir derzeit den ersten Anstieg der globalen Armut seit Jahrzehnten und der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die keine Schule besuchen, ist 2020 coronabedingt explodiert.

Die UN schreibt in ihrem aktuellen Bericht zum Stand der „Ziele für nachhaltige Entwicklung“, dass die Fortschritte bereits vor der COVID-19-Pandemie „ungleichmäßig und unzureichend waren, um die Ziele bis 2030 zu erreichen“. Mit COVID-19 gefährde jetzt „eine beispiellose gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Krise Menschenleben und Existenzgrundlagen“ und gestalte die Erreichung der Ziele „noch schwieriger“. António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, schreibt: „Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung erfordern eine Transformation der finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Systeme unserer heutigen Gesellschaften, um die Menschenrechte aller Menschen zu garantieren. Dazu bedarf es immensen politischen Willens und ambitionierter Maßnahmen seitens aller Interessenträger.“ Ob dieser Wille durch die massiven Einschnitte und Belastungen der nationalstaatlichen Haushalte weiterhin ausreichend vorhanden ist, muss bezweifelt werden, auch wenn mit dem Wiedereinstig der USA in WHO und Pariser Klimaabkommen ein wichtiger Schritt mit Signalwirkung getätigt ist. Guterres konstatiert, dass die Corona-Krise „die bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten aufgedeckt und verschärft“ habe und ganze Gruppen, die bereits vorher benachteiligt waren, noch weiter marginalisiert würden:

„In den Entwicklungsländern sind die verwundbarsten Menschen, darunter die in der Schattenwirtschaft Beschäftigten, ältere Menschen, Kinder, Menschen mit Behinderungen, Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen, Migrantinnen und Migranten und Flüchtlinge, noch stärker gefährdet. Weltweit trifft die Pandemie junge Menschen unverhältnismäßig hart, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Frauen und Mädchen sehen sich neuen Barrieren und Gefahren gegenüber, die von einer Schattenpandemie der Gewalt zu zusätzlicher Belastung durch unbezahlte Pflegearbeit reichen.“

Es gibt also viel, unfassbar viel zu tun! Und es reicht dabei nicht, nur einfach weiter nach vorne zu preschen, sondern wir müssen auch all das „on top“ wiederherstellen, was an Entwicklung durch die Pandemie vernichtet wurde. Und das nicht nur national, sondern global. Und auch in Regionen, die wir gerne übersehen, weil sie nicht „wichtig“ sind. Gestern habe ich zum Beispiel in den Nachrichten gelesen, dass bereits mehrere Minister in Simbabwe an den Folgen von Covid-19 gestorben seien und die Infizierten-Zahlen im Land im internationalen Vergleich zwar gering seien, aber dennoch „hoch genug, um das Gesundheitssystem des Landes in Schwierigkeiten zu bringen“. Und genau da liegt das Problem, wenn wir im Westen allzusehr auf uns selbst und unsere regionale Bekämpfung der Pandemie fokussiert sind, um unsere verlorenen Freiheiten und Privilegien schnellstmöglich wiederherzustellen und weltweiten Tourismus zu ermöglichen, während sich in den „Cold Spots“ der Welt das Virus fröhlich weiterverbreitet und mutiert und dann als Bumerang, resistent und tödlich, zu uns zurückekehrt. The empire strikes back, heißt es dann wieder. Verbunden mit der zerknirscht hervorgepressten Einsicht, dass die Welt in Zeiten der Pandemie als gesamtes System betrachtet werden muss, in dem lokale Therapie nur wenig nützt.

So sieht das auch ein anderer Autor, Bruno Latour, der in seinem „Terrestrischen Manifest“ darauf hinweist, dass durch den Klimawandel – man möchte ergänzen: auch durch die Pandemie – die Welt zu einem „politischen Akteur“ geworden ist, der ernstgenommen werden muss. Unter dem Begriff des „Terrestrischen“ subsummiert Latour dabei ein „alternatives Verständnis von Natur, Wissenschaft und Ökologie, eine neue Perspektive, in der wir die Erde nicht kalt szientistisch wie von Ferne betrachten, sondern aus der Nähe, teilnehmend.“ Alle Fragen der Zukunft, schreibt er, – auch die sozialen Fragen der Umverteilung und Gerechtigkeit – werden daher geopolitische Fragen sein. 

In Zeiten des erstarkenden Nationalismus sind das für viele Menschen natürlich trübe Aussichten. Für alle anderen sind es durchaus gute „News“! Denn der Zwang zu globaler Kooperation wird dadurch erhöht, der Druck verstärkt auf Nationen und deren Regierung, an einem kollektiven Strang zu ziehen, der in eine definierte, für alle wünschenswerte, weil Menscheit und Umwelt vor dem gemeinsamen Untergang rettende Richtung verläuft. Wenn nur die „Leugner“ nicht wären, die nur den eigenen Tellerrand im Blick und die eigene Beschränktheit als Maß aller Dinge haben. Hier braucht es dann das, was Harari „das große Narrativ“ nennt – eine attraktive Zukunftsgeschichte der Menschheit, die wie Religionen, Nationen und Geld dafür sorgt, dass die Menschen wieder kollektiv an etwas glauben können, worauf es sich hinzuarbeiten lohnt. Er schreibt:

„Die besten Geschichtenerzähler der Welt sind nicht die Nobelpreisträger für Literatur, sondern die für Wirtschaftswissenschaften. Sie überzeugen Milliarden Menschen auf der ganzen Welt, einen Monat hart zu arbeiten, um am Ende ein paar Zettel in die Hand gedrückt zu bekommen oder ein paar Zahlen auf dem Konto zu haben. Warum tun wir Menschen so etwas Unvernünftiges? Weil wir glauben, was die Banker uns erzählen.“

Was wir brauchen, ist also ein globales Narrativ. Insbesondere für die Wirtschaft, und noch insbesonderer: für die Technologie! Denn für eine lebenswerte Welt haben wir ja bereits einen Blueprint: die 17 SDGs. Für die Wirtschaft und die Technologie wurde ein solcher Vorschlag auf oberster Ebene im Mai 2020 gemacht. Unter dem Titel „The Great Reset“ (engl. „Das große Zurücksetzen“ bzw. „Der große Neustart“; auf deutsch auch: „Der Große Umbruch“) wurde von Prinz Charles und WEF-Direktor Klaus Schwab ein umfassendes, visionär anmutendes Programm vorgestellt, das auf eine Verbesserung des Kapitalismus abzielt. Prinz Charles betonte während der Präsentation, dass der darin niedergelegte Inhalt nur mit der Zustimmung der „Menschheit“ umgesetzt werden solle. Wie diese Zustimmung konkret erfolgen solle, blieb dabei offen. Auch wie man mit Widerspruch umgehen werde. Aber gut.

Der Vorschlag des Weltwirtschaftsforums handelt jedenfalls von einem nachhaltigen Wiederaufbau der globalen Wirtschaft im Anschluss an die COVID-19-Pandemie. Hierfür bedürfe es des Umbruchs und der Neugestaltung sozialer und ökonomischer Systeme. Wichtige Dimensionen dieses „nachhaltigen“ und „fairen“ Wirtschaftens seien: Innovation, Wissenschaft und Technologie. Das Ziel läge im Starten einer vierten industriellen Revolution, zum Zwecke der Schaffung einer digitalen wirtschaftlichen und öffentlichen Infrastruktur. Um diese anzustoßen, werde der „Great Reset“ das Hauptthema des WEF-Gipfels 2021 sein.

An dem Vorschlag ist grundsätzlich nichts Neues. Bereits früher und pandemie-unabhängig haben verschiedene Thinktanks und Institutionen ähnliches vorgelegt (u.a. Bertelsmann Stiftung, Atlantic Council und OECD). Was mich daran allerdings stört ist die stillschweigend vorausgesetzte Annahme, dass alle Welt eine Welt wolle, die auf „Innovation, Wissenschaft und Technologie“ beruht. Vielleicht hätten manche ja lieber eine Welt, die auf Liebe, Poesie und Warentausch basiert. Oder einen Rückzug auf die Allmende. Eine Welt ohne globale Hypervernetzung. Oder zumindest ohne kapitalistischen Konsum. Doch es scheint eine ausgemachte Sache zu sein, dass die Welt ohne Kapitalismus, Wachstum und westlichen Konsum nicht funktionieren kann. Und dass es ohne das Digitale auch nicht mehr geht. (Marc-Uwe Kling hat dafür in „QualityLand 2.0“ das treffende Bild geprägt, dass das Internet wie ein Messer im Bauch sei. Man könne damit herumlaufen, aber sobald man es herauszieht, verblutet man.)

Die Logik dahinter ist offensichtlich: Nachdem inzwischen nahezu jeder verstanden hat, dass der Globus nicht groß genug ist für die globalen Expansionspläne aller Unternehmen und Nationen, braucht es die unbegrenzt expandierbare Digitalwelt, um weiteres Wachstum zu sichern. Börsen und Shareholder sollen schließlich nicht zurückstecken müssen, wenn die Welt weniger konsumiert und nachhaltiger agiert. Entsprechend werden Daten ja auch als das neue Öl oder Gold gesehen: Kaufdaten, Gesundheitsdaten, Bewegungsdaten, Verhaltensdaten, Netzwerkdaten (Social Graph), Nutzungsdaten (Cookies!) – hier findet die heutige Wertschöpfung statt, durch Produkte, die uns (als Nutzer) zum Produkt machen – für Datenhaie, Abzocker, Spammer und Hacker, und natürlich für Staaten, Geheimdienste, Gesundheitsbehörden und Tech-Unternehmen jeder Art. Dass diese digitale Art der globalen Vernetzung alles andere als sicher für ihre Nutzer ist, wird billigend in Kauf genommen. Schließlich geht es um Profit, und nicht um Sicherheit (mit der natürlich noch einmal so viel Profit gemacht wird).

Stichwort Dual Use again: Ist es hinzunehmen, dass US-amerikanische Präsidentschaftswahlen von ausländischen Hackern beeinflusst werden? Dass Parteien und Kandidaten dabei ihre Wähler über Social Media ausspionieren und gezielt manipulieren? Dass digital verbreitete Fake News Demokratien ins Wanken bringen? Dass autoritäre Staaten ihre Bürger digital überwachen? Dass Minderjährigen Kinderpornos aufs Handy gespielt werden zur Anbahnung sexueller Kontakte (Cyber Grooming)? Dass Schulclouds gehackt werden, um Schülern kompromittierende Inhalte unterzujubeln? Dass ganze Industrien darauf basieren, die Aufmerksamkeit von Menschen zu stehlen, um sie stundenlang wie apathisch auf Bildschirme glotzen zu lassen? Dass es mit klassischer Bildung bergab geht, weil das Digitale ja so spannend ist und immer mit neuen Herausforderungen und Belohnungen aufwarten kann? Dass Singles sich nur noch online treffen und glauben, auch nur noch online einen Partner oder eine Partnerin finden zu können? Dass unsere Mailboxen von unerwünschter Werbung und kranken Angeboten überflutet werden? Dass uns digitale Geschäftsmodelle rechtlich abgesichert frech hintergehen dürfen? Dass Hacker in Kernkraftwerke und Ministerien eindringen können? Dass unser Geld verschwindet und jede Transaktion trackable wird?

Man fragt sich: Wie kann angesichts von so viel Missbrauch, Fehlentwicklung und Versagen ein Vertrauen in eine Zukunft auf Basis ebendieser Technologien entstehen? Denn wenn das schon nicht funktioniert, quasi die Hausmannskost des Digitalen, wie soll man da auf das reibungslose Funktionieren einer künstlich intelligenten Superintelligenz, der digitalen Haute Cuisine gewissermaßen, vertrauen? Welch eine Hybris der Entwickler und Tüftler, davon auszugehen, dass schon nichts schiefgehen wird! Dass keiner etwas Böses damit will! Dass das ja nur zum Nutzen der Menschheit eingesetzt wird und nicht zu ihrem Schaden!

Liebes Digital, du kannst mich mal! Ich glaube nicht mehr an dich! Mit deiner Seamless Experience und Hinterfotzigkeit! Mit deiner schönen Fresse und hässlichen Gier!

Noch einmal Harari, zum Schluss: Wenn Religion, Staat, Geld, Verschwörungen nur deshalb funktionieren, weil die Menschen daran glauben, dann entziehe ich dem Digitalen hiermit die Glaub-würdig-keit! Eine mental gesunde Gesellschaft würde mich dabei unterstützen…

 

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