Der Reiz des Reizes

Die Welt wird immer digitaler. Dadurch steigt auch die Lust am Sinnlichen. Für Marketer eröffnen sich spannende neue Wege der Markenführung, wenn sie beides zusammendenken.

620.480.777. Das ist die Anzahl an Webseiten, die Netcraft im Oktober 2012 weltweit erfasst hat. Zwei Drittel davon sind ungenutzte Platzhalter oder identische Websites von unterschiedlichen Top-Level-Domains. Der Rest aber, also rund 200 Millionen Webseiten, konkurriert um die Auf- merksamkeit der Nutzer. Und die wird ein immer knapperes Gut. Denn der Mensch wird anspruchsvoller, auch und ins- besondere im digitalen Raum.

Schlechte Nachrichten also für das Gros deutscher Websites. Denn diese sind in der Regel, was sie schon 1995 waren: statisch, textlastig und sinnesfern. Und damit genau das Gegenteil von dem, was Konsumenten heute erwarten – und was ihr Hirn präferiert. 

Das Stichwort, um das es geht, heißt multisensorische Markenführung und endet in der Praxis meist beim Audiobranding aka Yippie Ya Ya Yippie Yippie Yeah oder Da da da di da. Dabei ist multisensorisches Marketing, also die Zielgruppenansprache über mehrere Sinne, eigentlich ein lange bekannter Ansatz. Schon 1932 erschien ein wissenschaftlicher Artikel darüber, dass sich Jeans mit Duft leichter verkaufen lassen. Heute wissen wir, dass klassische Musik im Café zum Verweilen und Konsum von Caffè Latte anregt und französische Chansons im Supermarkt den Verkauf franzö- sischer Weine steigern. Und dank der Neurowissenschaften wissen wir auch, wie das Ganze funktioniert – und sich gezielt in allen Bereichen des Marketings einsetzen lässt.

Wir erinnern uns: Menschen nehmen ihre Umwelt mit fünf Sinnen wahr. Bilder, Klänge, Gerüche, Aromen und Materialien lösen unterschiedliche Assoziationen und damit Emotionen aus. Werden mehrere Sinne mit der gleichen Botschaft angesprochen, addiert sich deren Wirkung nicht nur, sondern multipliziert sich. Je mehr Sinne gleichzeitig involviert sind, desto stärker die Emotion – und desto stärker auch die mögliche Hinwendung zu einer Marke.

Unsere Sinne sind dabei mehr als bloße Aktivierungshebel. Sie sind in der Lage, auch Inhalte und Bedeutungen zu transportieren: Autohersteller nutzen haptische Signale, um Qualitätskonzepte im Gehirn zu aktivieren – etwa durch das Verwenden von hochwertigem Holz, Leder oder Textilien. Über das Ploppen einer Flasche beim Öffnen – oder das Krachen eines Kekses beim Zerbeißen – lässt sich ein Gefühl von Frische und Köstlichkeit aktivieren. Sehe ich eine Blumenwiese in der Werbung für Waschmittel und Weichspüler, kann ich den Geruch förmlich „riechen“, fällt die Flasche dann noch auf einen Stapel flauschig gespülter Handtücher, wird die Weichheit, die das Mittel erzeugt, beinahe körperlich spürbar für mich.

Das war schon in den Siebzigern so, als Werbung bereits multisensorisch inszeniert war. Und bevor es den Begriff der Spiegelneuronen (*1995) gab. Der bezeichnet „eine Nervenzelle, die im Gehirn von Primaten beim Betrachten eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster aufweist, wie es entstünde, wenn dieser Vorgang nicht bloß (passiv) betrachtet, sondern selbst (aktiv) durchgeführt würde“ (Wikipedia). Anders ausgedrückt: Beißt jemand im Fernsehen in eine Zitrone, lässt das kaum jemanden kalt.

Diese für Imitation und Empathie zuständigen Spiegelneuronen lassen sich auch online auslösen, Duft, Geschmack und Haptik sich auf diese Art im Gehirn des Betrachters evozieren. Warum also nutzen nicht mehr Markenhersteller diese Techniken, um ihre Marke ganzheitlich zu positionieren?

Viele Unternehmen reduzieren ihre Internetpräsenz auf einen visuellen Showroom. Gerade Online-Shops beschränken ihre Seiten auf eine zentrale Produktpräsentation, welche vom immer gleichen weißen Rahmen eingeschlossen wird. Sie verschenken dabei aber die Möglichkeiten, die eine multisensorische User-Ansprache bietet. Wie bereits beschrieben, lassen sich die Erkenntnisse des Neuromarketings vom POS auch auf das Web übertragen. Eine Webseite kann also mehr leisten als nur ein digitaler Produktkatalog zu sein.

Gerade um sich vom Wettbewerb zu unterscheiden, sollte das zentrale Anliegen also nicht die reine Präsentation des Produktes, sondern das Einbinden des Käufers in ein multisensorisch-emotionalisierendes Erlebnis sein. Es gilt das, was in der realen Welt auf die Marke einzahlt, in die digitale Welt zu übertragen. Das heißt: Formen, Farben, Oberflächen und Klänge auch online zu einem ganzheitlichen Markenerlebnis zu vereinen.

Den Kaufknopf im Gehirn des Kunden wird auch das multisensorische Marketing nicht finden. Es kann aber helfen, in einer Zeit, in der mono- und duosensorische Kommunikation an ihre Grenzen stößt, neue Aufmerksamkeit auf eine Marke zu lenken.