Am Tipping Point. Wie viel Wandel verträgt der Mensch?

Ein „Rechtsruck“ geht derzeit um die Welt. Meiner Ansicht nach stehen dahinter aber nicht primär nationalistische Tendenzen, sondern vielmehr die Frage: Wie modern kann und will eine Gesellschaft sein. Insofern handelt es sich also weniger um einen Kampf zwischen Linken und Rechten, sondern vielmehr um einen Kampf zwischen Traditionalisten und Modernisten.

 

Was bedeutet modern, was traditionell?
Das Beispiel USA

Das Bild, das wir von den USA haben, ist das eines modernen, zukunftsorientierten, demokratischen Landes mit weltbekannten Metropolen, das seinen Wohlstand einem hartnäckigen Innovationsstreben (vgl. die Erfolgsstories von Apple, Google, Facebook & Co.) und einer idealistischen Can-Do-Attitude (Fehlertoleranz, American Dream: vom Tellerwäscher zum Millionär) verdankt. Dieses Bild mag richtig sein – für einen Teil der amerikanischen Gesellschaft. Aber es ist eben nur die halbe Wahrheit.

Die Präsidentschaftwahl in den USA hat gezeigt, das Donald Trump seinen Wahlsieg in erster Linie männlichen, niedrig qualifizierten, ländlichen Wählern verdankt. Diese gibt es in großer Zahl – und sie sind ausgesprochen anders als die jungen, dynamischen, mobilen, multikulturellen, flexiblen, toleranten und kosmopolitisch denkenden Eliten in Silicon Valley, New York oder Hollywood. Der Großteil der USA ist ländlich geprägt. Und er denkt traditionell, in traditionellen Macht- und Beschäftigungsverhältnissen, in traditionellen Industrien, in traditionellen Geschlechterrollen, in traditionell anerkannten sexuellen Orientierungen, in traditionell geprägten christlichen Werten, in den traditionellen Versprechungen des American Dream. Alles, was davon abweicht, macht diesen Menschen Angst, da sie es als fremd erleben und Fremdheit eine Bedrohung für sie darstellt.*

Was solche traditionell orientierten Menschen nun seit Jahren erleben, sind unzählige Kränkungen durch die „gesellschaftlichen“ bzw. „leitkulturellen“ Verwerfungen ihrer „beliefs“ und „values“. Innerhalb weniger Jahre galt es bei den kulturellen Eliten und Meinungsmachern als schick, nicht mehr nationalistisch zu denken, sondern kosmopolitisch, nicht mehr republikanisch, sondern demokratisch, nicht mehr rechts, sondern links, nicht mehr weiß, sondern multikulturell, nicht mehr heterosexuell, sondern tolerant, nicht mehr christlich, sondern religionsoffen, nicht mehr analog, sondern digital, nicht mehr materialistisch, sondern postmaterialistisch, nicht mehr maskulin, sondern feminin, nicht mehr cowboyhaft, sondern politisch, ökologisch und gendermäßig korrekt.

Wer als Weißer im Mittleren Westen großgeworden ist, musste lernen, dass prinzipiell alles, womit er großgeworden ist – seine Werte, Gesellschaftsvorstellungen und sonstigen Prinzipien –, durch die Brille der modernen Leitkultur betrachtet, heute als provinziell und falsch gilt. Dass damit einige Wut aufkommt, lässt sich gut nachvollziehen.

 

Die Moderne als kulturelle Zwickmühle

Das Muster der „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) scheint sich in vielen Gesellschaften auf der Welt sehr ähnlich zu wiederholen: Die Moderne macht die Rechnung ohne die Tradition. Es wird alles solange „modernisiert“, bis es für Traditionalisten nicht mehr auszuhalten ist. Wird dagegen aufbegehrt, werden die Menschen, die sich in ihren Bedürfnissen übergangen fühlen, extremisiert, als Fundamentalisten geächtet oder als zurückgebliebene Idioten abgestempelt. Vielleicht sind sie das aber gar nicht, sondern werden von der Gesellschaft oder ihrer Wut auf sie nur dazu gemacht. Weil sie nicht so viel Wandel ertragen können, wie die Gesellschaft derzeit von ihnen erwartet.

In arabisch bzw. muslimisch geprägten Ländern kämpfen die Traditionalisten derzeit aggressiv gegen die Säkularisierung ihrer Gesellschaftsordnung an. Das darf man scheiße finden, insbesondere wenn man in einer Gesellschaft lebt, die die Säkularisierung bereits hinter sich hat. Wer in einer libertären Gesellschaft lebt, wird wenig Verständnis haben für die Anhänger von Diktatoren. Wer gelernt hat, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer, wird auf Kulturen, die das anders sehen, mit Unverständnis und Verachtung reagieren.

Dieses Denkschema funktioniert sehr gut für alle, die die Mauer schon hochgeklettert sind und auf alle anderen runterblicken können. Alle, die unten an der Mauer stehen, diese verteidigen und schon gar nicht hochklettern möchten, macht das wütend. Möglicherweise sogar zu Recht. Denn wer bestimmt eigentlich darüber, in welchem Tempo – und wohin – sich die Gesellschaft verändert? In den Diktaturen die Diktatoren (für einen hohen Preis). In der globalen Welt aber hat darüber niemand mehr die Macht. Dieses moderne Ding, das da irgendwann von irgendwem in Gang gesetzt wurde, hat sich komplett verselbständigt und rast mittlerweile unkontrolliert und unkontrollierbar in atemberaubender Geschwindigkeit durch alle Lebensbereiche, erhöht allenortens die Komplexität wie ein Krebsgeschwür und zwingt alles und jeden in seinen Sog.

 

Fortschritt bedeutet: von etwas fortschreiten

Während es Entwicklungen in der Welt gibt, die allgemein begrüßt werden, weil sie Verbesserungen für den Menschen an sich bedeuten – medizinischer Fortschritt, regenerative Energien, Recycling etc. –, scheint die Mehrheit des „Fortschritts“ von bestimmten Interessengruppen für bestimmte Interessengruppen konzipiert zu sein. Die Frage, die sich bei vielen Entwicklungen daher durchaus zu stellen lohnt, lautet also: Wer profitiert eigentlich davon, dass etwas in die oder die Richtung gelenkt wird? Eine Mehrheit oder eine Minderheit?

Ich denke, dass viele Entwicklungen, die sich heute am Horizont abzeichnen, zwar einer Mehrheit schmackhaft gemacht werden, aber tatsächlich nur einer Minderheit nützen. Denn hinter dem Gros an „Fortschritt“ steckt einzig und allein der Profit. Meist ist die verantwortliche und perverse Logik dahinter: „Wenn wir es nicht machen, machen es die anderen.“ Damit wird dann gerechtfertigt, dass Atomwaffen gebaut, Menschen geklont, Autos verselbständigt, Arbeiter durch Roboter ersetzt, persönliche Daten heimlich gesammelt, Menschen ausspioniert, künstliche Intelligenz hochgezüchtet oder Menschen als Ware verdinglicht werden.

So haben Abiturienten heute statt 13 Jahren nur noch 12 Jahre Zeit bis zum Abi, gehen dann durch ein durchgetaktetes Hochleistungsstudium, das keinen Raum mehr lässt zum Innehalten, Nachdenken, Suchen und Verstehen, nur um der Wirtschaft möglichst schnell zur Verfügung zu stehen – mit dem Ziel, sich selbst, als Arbeitende, im Idealfall möglichst schnell ganz abzuschaffen. Fortschritt eben: schnelles von etwas Fortschreiten.

 

Es fehlt an Korrektiven

Vor wenigen Jahrzehnten noch kommentierten Intellektuelle das Zeitgeschehen und machten auf Missstände aufmerksam. Sartre, Camus, Beauvoir, Böll, Grass, Adorno, Habermas, Sloterdijk oder Helmut Schmidt, um nur einige zu nennen, beobachteten kritisch, wohin die Welt sich dreht und warnten vor drohenden Fehlentwicklungen. Diese Korrektive fehlen mir heute oder erscheinen mir nicht einflussreich genug.

Elon Musk und Stephen Hawking etwa gehören zu den prominentesten Kritikern der künstlichen Intelligenz. Eine künstliche Intelligenz zu erschaffen sei, so Musk, ebenso gefährlich wie den „Teufel herbeizuzitieren“, die Fortschritte „immens und beängstigend“. Eine breite Auseinandersetzung auf politischer Ebene, wo die Grenzen einer solchen Technologie sein sollten, bleibt indes aus, weil die Politik sich mit Bedrohungen (vgl. Klimawandel, Staatsverschuldung, Resourcenknappheit, Digitalisierung/Industrie 4.0 etc.) erst beschäftigt, wenn es bereits zu spät ist.

Im Jahr 2015 hat Elon Musk daher zehn Millionen Dollar an das Future of Life Institut (FLI) in Boston gespendet. Das Institut soll sicherstellen, „dass die künstliche Intelligenz nicht eines Tages die Menschheit zerstöre“. Indes fließen staatliche Forschungsgelder überall auf der Welt in Massen in die Weiterentwicklung der K.I. Warum? Na, wenn wir es nicht machen, machen es die andern…

 

Am Tipping Point angelangt

Auch in meiner Arbeit stehe ich immer wieder vor der Frage: Wie viel Wandel vertragen die Kunden meiner Kunden? Wie viel Wandel vertragen ihre Mitarbeiter? Wie viel Wandel vertrage ich selbst? Um ihnen Wettbewerbsvorteile zu sichern („Die anderen machen es schon, da können wir nicht hinterherhinken!“), unterstütze ich Unternehmen beim Thema Digitalisierung, im Job geht ohne digitale Technologien und Arbeitsweisen schon lange nichts mehr, zuhause hängen die Kids an iPhone, iPad und Wii, mit Freunden bin ich über Facebook, Skype und WhatsApp vernetzt, fahre ein vernetztes Auto, ja, sogar die Heizung hängt am Netz und lässt sich per App von überall aus steuern. Ein Leben im Fortschritt also. Das mir aber oft vorkommt wie ein Leben im Fortschrittswahn. Und jetzt auch noch Automatisierung, Robotik und Künstliche Intelligenz. Ist da meine Grenze, mein persönlicher Tipping Point?

Ich bin 1986 mit einem C64 in die digitale Welt eingetreten, habe davor bereits bei Freunden Atari gespielt. Ich habe die Anfänge des Internets und der Digitalisierung erlebt, seitdem etwa acht oder neun Computer gekauft, zig Webseiten entwickelt, Hunderte von Präsentationen erstellt, Fotos bearbeitet, Musik komponiert, Spiele programmiert. Ich bin Digital Native durch und durch. Und mir geht das Digitale immer mehr auf den Sack. Nicht weil es doof ist, sondern weil es so schnell ist und mich ständig mit meinen eigenen Grenzen konfrontiert. Gestern noch Web, heute App und Tab, morgen Conversations. Gestern Klicken, heute Touchen, morgen Quatschen. Bald dann nur noch Gesten und Gedanken, danach übernimmt der Computer komplett für uns.

Der Tipping Point: Überwiegt jetzt bald das Traditionelle in mir – oder mache ich einfach nur die nächsten Modernisierungswellen nicht mehr mit? Will ich die alte Welt (das Heute) dann einfach nur festhalten oder werde ich anti-digital aggro? Werden meine Kinder mich irgendwann altmodisch nennen, dann reaktionär, dann fundamentalistisch und zuletzt rechtsextrem? Welches Geschlecht habe ich eigentlich bei Facebook? MzF oder Inter* Mensch? Interessiert mich das überhaupt noch?

 

Bye-bye Siri! Bye-bye Cortana! Bye-bye Echo!

Ich stehe als Gesprächspartner nicht mehr zur Verfügung.

(OK, erst nach dem nächsten Digitalisierungsprojekt.

Denn wenn ich es nicht mache, macht es ja ein anderer.)

 

 

Anmerkungen:

* Der meines Wissens beste Text, der sich mit Fremdheit beschäftigt, ist „Modi des Fremderlebens“ von Ortfried Schäffter – eine klare Leseempfehlung für alle, die sich mit kulturellen Prozessen (auf gesellschaftlicher Ebene oder in Unternehmen) beschäftigen: https://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/de/ebwb/team-alt/schaeffter/downloads/III_19_Modi_des_Fremderlebens_Endv.pdf