Wie das digitale Zeitalter (neue) sinnlich wahrnehmbare Dimensionen erschafft – Teil 2

Vortrag beim 18. G·E·M Markendialog 2014

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2. Was sind neue Sinneserfahrungen?

Eine meiner Grundthesen ist, dass das Digitale an sich schon eine eigene Sinnlichkeit besitzt. Es ist nicht nur sinnlich wahrnehmbar, sondern hat eine eigene Sinnesqualität.

Blicken wir kurz zurück. 1972 war Pong das erste kommerzielle Computerspiel. Wenn wir uns diese 8-Bit-Grafik anschauen, wird einem sofort bewusst: Da wurde etwas Neues aufgemacht. So ein maximal reduziertes, flaches Design gab es vorher nicht. Man spürt förmlich, dass die Computerwelt aus Nullen und Einsen besteht. Bei Pong und später auch bei PacMan ist man ganz nah an dieser eigentümlichen Sinnlichkeit des Digitalen dran. Die Top-Games von heute sehen der Wirklichkeit bereits zum Verwechseln ähnlich. Sie imitieren die Realität oder erschaffen neue phantastische Welten, die aber völlig an unseren Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten orientiert sind. Das wirft natürlich Fragen auf. Wollen wir wirklich, dass sich die digitale Welt so sehr unserer Welt annähert, dass es zu Verwechslungen kommen kann? Braucht es nicht eher diese eigene Sinnlichkeit, diese Unterscheidbarkeit zwischen realer Welt und digitaler Welt?

In diesem Kontext ist es ganz interessant, sich mit Apple zu befassen. Apple hat mit iPhone und iPad einen großen Sprung nach vorne gemacht und die Welt durch die Touchsreens mit ihrer Tipp- und Wischnavigation radikal verändert. Das war sehr neu im Umgang mit dem Digitalen. Das haptische Erleben ist ein ganz anderes als wenn wir Tasten drücken. Man kann sagen: der Tastsinn wird zum Touchsinn. Man sieht bei Apple aber auch diese radikale Orientierung des Designs an der Materialität und Sinnlichkeit der Realität. Apple perfektionierte die Realitätsnachahmung nicht nur optisch, wo man Holz-, Leder- und Papieroptiken sehen kann, sondern auch funktional, zum Beispiel das Seitenumblättern bei iBooks oder das Gitarrensaitenziehen bei Garage Band.

Das wirft die Frage auf: Brauche ich das eigentlich im Digitalen? Apple hat viele Konstruktionsdetails von bekannten und vertrauten Objekten kopiert, obwohl diese im digitalen Bereich gar nicht notwendig sind. E-Books im Holz-Regal, macht das Sinn? Oder die Darstellung eines 50er-Jahre-Mikrofons als Aufnahmegerät. Dieser Rückgriff auf Vertrautes aus der realen Welt nennt sich Skeuomorphismus. Apple hat das perfektioniert, aber wir sehen auch hier, dass jeder Trend einen Gegentrend provoziert. Microsofts Metro-Design erinnert wieder sehr stark an diese 8-Bit-Computergrafik der ersten Stunde. Microsoft macht sich damit nicht nur ein neues Markenkennzeichen, sondern wirft auch die Frage auf: Was ist eigentlich digitale Sinnlichkeit?

Digitale Sinnlichkeit über alle fünf Sinne

Digitale Sinnlichkeit fokussiert sich bisher auf Hören und Sehen. Von den bekannten fünf Sinnen spricht die digitale Welt damit nur zwei Sinne an. Es gibt mittlerweile erste Versuche, auch die anderen Sinne anzusprechen, vor allem den Geschmacks- und Geruchssinn. Allerdings ist da noch keine Technologie wirklich marktreif. Das Gleiche gilt für den Tastsinn. Hier sind erste Prototypen in Arbeit und auch in vielen Startups wird heftig gewerkelt.

Sehen wir uns einige Beispiele an. Microsoft wollte bei der neuesten Generation seiner xBox die Immersivität verstärken. Die Entwickler versuchten sich daher an der Integration von Geruchsemittern in die Spielecontroller. Die Idee dahinter: Wenn der Spieler z. B. durch einen virtuellen Dschungel geht, soll er passend dazu die exotische Flora riechen können. Erste Prototypen dazu waren erfolgreich, aus Kostengründen wird die Idee aber nicht realisiert.

Ein anderes Beispiel: Poptopia. Ein Mobile Game, das über einen Plugin-Dongle Popcorn-Gerüche beim Spielen freisetzen kann. Ein Dongle ist ein kleines Gerät, in diesem Fall ein Geruchsemitter, den man sich in die Audiobuchse seines Smartphones steckt. Wenn man Poptopia spielt, setzt das Gerät bei bestimmten Spielereignissen, etwa dem Erreichen einer bestimmten Punktzahl, einen Geruch frei, der an Popcorn erinnert.

Weiteres Beispiel: Tongue ist ein multisensorischer Design-Prototyp für den Einsatz im medizinischen Bereich: Patienten, die künstlich ernährt werden müssen, können ihr Essen weder riechen noch schmecken. Tongue ist ein erster Versuch, hier Abhilfe zu schaffen. Da Geschmack etwa zu 75 Prozent durch den Geruchssinn beeinflusst wird, fokussiert Tongue sich auf die Emission von Gerüchen, die der Patient via iPad auswählen kann.

Nicht zuletzt gibt es das Thema der haptischen Displays; darüber haben wir heute schon kurz etwas gehört. Haptische Displays simulieren die abgebildeten Objekte. Diese Simulation erfolgt entweder über elektrische Impulse, die gezielte Reize auslösen, oder über Flüssigkeiten, die in das Display eingeschossen werden und es so plastisch formen.

Den Einsatz von elektrischen Leitern zur Auslösung von Nervenreizen kennen wir vom Datenhandschuh. Ein relativ altes Konzept aus den 1980er Jahren, der Zeit des „Cyberspace“. Der Datenhandschuh bietet zwei verschiedene Funktionen: Einmal kann man sich damit in Computerspielen bzw. im virtuellen Raum bewegen und dort über ein taktiles Feedback Dinge „erfühlen“. D.h., man spürt die Dinge über deren simulierten Objektwiderstand. In einer perfekten Simulation glaubt man dadurch, virtuelle Dinge in die Hand nehmen zu können. Es gibt zudem eine Kraftrückkopplung, also das Gefühl, Kraft aufwenden zu müssen, um einen schweren Gegenstand zu heben.

Noch ein letztes Beispiel für multisensorische Bemühungen aus der Industrie: Project Sense hat sich zum Ziel gesetzt, vier Sinne anzusprechen, um Nutzern ein emotionaleres Erlebnis beim Online-Shoppen zu ermöglichen. Sehen und Hören erfolgt dabei über einen klassischen Laptop, über einen Touch-Smell-Glove werden die beiden anderen Sinne angesprochen. Die Berührungssimulation funktioniert ähnlich wie beim Datenhandschuh, zudem sind Geruchsemitter in dem Gerät untergebracht, die das Gefühl der Immersion in die digitale Welt beim Surfen verstärken.

Kurz ein Zwischenfazit: Zwei Sinne werden bereits durch die digitale Welt gut angesprochen – Sehen und Hören. Zwei weitere in Ansätzen – Fühlen und Riechen. Das Schmecken wird noch gar nicht bedient. Wir haben zudem gesehen, dass der Fokus der bisherigen Bemühungen vor allem darin lag, das Wirklichkeitserleben technisch zu imitieren. Zukünftig wird es zunehmend darum gehen, das Wirklichkeitserleben technisch zu erweitern. Hierfür bietet das Digitale viele spannende Technologien.

Sinnliches Erleben ist nicht auf fünf Sinne beschränkt

Professor Schmid hat heute Morgen schon darauf hingewiesen, dass es mehr als fünf Sinne gäbe. Der Bewegungssinn sei der sechste Sinn. Ich bin ebenfalls der Auffassung, dass es mit den bekannten fünf Sinnen nicht getan ist. Rudolf Steiner etwa hat ein Modell mit zwölf Sinnen entwickelt, auf das ich mich im folgenden beziehen möchte. Steiner hat in drei Kategorien unterteilt: in Erkenntnis-Sinne, Sozial-Sinne und Leibes-Sinne. Unsere fünf Sinne sind darin auch verortet, aber er geht auf sieben weitere Sinne ein.

Unter anderem hat er den Lebens-Sinn identifiziert. Hier geht es in erster Linie um Vitalfunktionen, das Bewusstsein über den Status und die Konstitution des eigenen Körpers, unser Allgemeinbefinden also: wie geht es uns und unserem Körper.

Der Eigenbewegungs-Sinn erfasst die eigenen Körperbewegungen. Wenn ich mit der Hand irgendwo hinzeige, mich auf Zehenspitzen im Kreis drehe oder mir einen Datenhandschuh anziehe und durch den Raum navigiere. Auch bei vielen Videospielen setze ich meinen Körper ein, um zu navigieren, zu spielen. Diesen Sinn für die eigene Körperbewegung finde ich sehr spannend, weil er etwas mit Spiegelneuronen zu tun hat. Denn dahinter steckt ja die Fähigkeit der sozialen Interaktion, sprich: auf andere Menschen reagieren zu können. Jemand streckt die Hand aus und ich schüttele sie.

Ein weiterer Sinn ist der Gleichgewichts-Sinn. Er ist zwar im Ohr angesiedelt, hat aber nichts mit dem Hör-Sinn zu tun. Das Gleichgewicht, das kennt jeder aus eigener Selbstbeobachtung, ist ein eigener Sinn. Er ist eingeschränkt, wenn man betrunken ist, und rebelliert, wenn man sich länger im Kreis dreht. Wenn man mehrere Tage auf See war, schwankt der Boden noch tagelang nach, wenn man wieder an Land ist. Der Gleichgewichts-Sinn ist verantwortlich für die See- und Flugkrankheit.

Auch der Wärme-Sinn erscheint uns sofort bekannt: Ist es draußen warm oder kalt, ist mir selbst warm oder kalt? Beim Erkenntnis-Sinn sagt Rudolf Steiner, dass es nicht nur um das Ich-Bewusstsein geht, sondern auch um ein Gefühl für die eigene Persönlichkeit, also das eigene Wesen und den eigenen Charakter. Der ermöglicht Empathie, und auch das hat wieder etwas mit Spiegelneuronen zu tun.

Weitere Sinne sind: der Gedanken-Sinn, der uns das Erkennen und Verstehen der Bedeutung von Zeichen ermöglicht. Aber nicht gleichbedeutend ist mit Intelligenz, also der Fähigkeit, zum Kognitiven zu kombinieren. Und der Sprach- und Wort-Sinn: Wir können zwar Laute und Worte heraushören und als Worte und Sprache erkennen, aber auch nur diejenigen, die wir kennen, die uns bewusst sind. Wenn jemand kein Japanisch spricht, wird er zwar verstehen, dass da jemand redet, aber nicht verstehen, was das Gesagte bedeutet.

Meiner Ansicht nach endet unser Sinnes-Leben aber auch nicht bei diesen zwölf Sinnen. Mir sind noch Beispiele für andere Sinne eingefallen. Man sagt ja, man habe einen Sinn, ein Gespür für etwas. Was könnte das zum Beispiel sein? Einmal die Orientierung, der Orientierungssinn in Zeit und Raum, ein Gespür also für räumliche Dimensionen und Richtungen einerseits, anderseits für die (subjektive) Dauer von Ereignissen. Dann spüren wir manchmal eine Art Kollektivbewusstsein, den Kollektivsinn. Wir wissen, dass Chinesen ein viel stärkeres Kollektivbewusstsein haben als wir im Westen, was einerseits kulturell veranlagt ist, aber andererseits auch gelebt wird. Es wäre interessant, wenn man sich mal einen Tag lang in einen Chinesen hineinversetzen könnte, um zu erspüren, wie sich das anfühlt, wie nehme ich jetzt andere Mitmenschen wahr.

Schließlich der metaphysische Sinn, das Thema Spiritualität, was bei dem einen oder anderen mehr oder weniger ausgeprägt ist. Was auch ein wenig in Richtung Telepathie geht, wie wir es von vielen Naturvölkern kennen. Und zum Schluss noch der ästhetische Sinn: Jemand hat Geschmack, er hat einen Sinn für Schönes, für Proportionen, Materialien, Anordnungen etc.

Das sind alles Sinne, die kognitiv sind und viel mit Bewusstsein zu tun haben. Im Kontext digital ist sehr relevant, diesen Spielraum größer aufzumachen, weil das Digitale tatsächlich stark in diesen unterschiedlichen Sinnesmodalitäten spielt. Man kann also sagen: Auf zu neuem Wirklichkeits-Erleben!

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